Der Rüblischwur

 

Der Obervogt erhob sich und schloss das Fenster. Der Abend ließ einen kühlen Wind über den Limmat ziehen. Bevor er sich wieder niederließ, rief Aegidius Tschudi seinen Leibdiener. Wenn er weiterarbeiten wollte, würde es Kerzen benötigen.

Der getreue Niklaus hatte eben den Kandelaber platziert und einen frischen Becher dünnen Wein dazugestellt, als sich der Geschichtsschreiber wieder an seinen Schreibpult wandte.

 

Sein Werk, die Chronicon Helveticum war auf einem guten Wege. In den vergangenen Jahren, in den letzten Anstellungen hatte Tschudi stets die Gelegenheit genutzt und die ihm zugänglichen Archiven nach den entsprechenden Urkunden oder Chroniken durchforscht.

 

Inzwischen hatte der Gelehrte die Geschehnisse, die zur Befreiung der Schweizer Landen von der Habsburgischen Tyrannei, die seit über einem Jahrhundert lediglich von Mund zu Mund weitergegeben wurde, weitestgehend auf Pergament gebannt.

 

Aegidius Tschudi war es gelungen dieses besondere Ereignis gut zu belegen. So hatte er Kenntnis von einem Bauern aus Melche, dem der dortige Landvogt sein Ochsengespann fortnehmen wollte und weil er sich weigerte, in die Wälder fliehen musste. Oder ein anderer, Namens Baumgarten, der seinen Vogt mit der Axt erschlagen hatte, weil er seiner lieblichen Frau in unziemlicher Weise genähert haben soll. Und schließlich noch der Stauffacher aus Schwyz, der sich ein steinernes Haus gebaut hatte, was dem Landvogt Gessler sehr missfiel.

 

Bei diesen Dreien hatte Tschudi seine schriftstellerische Freiheit genutzt um Ihnen Kontur und Gesicht gegeben. So waren die Gründerväter der Eidgenossenschaft nun der „Arnold von Melchtal“, der Baumgarten aus Uri fortan der „Walter Fürst“, lediglich für den Dritten im Bunde wollte dem Geschichtsschreiber nichts rechtes einfallen, so blieb es einfach beim „Stouffacher von Schwytz“.

 

Eine weitere künstlerische Volte erlaubte sich Tschudi, indem er eine dänische Volksweise kurzerhand adaptierte und aus der Gesta Danorum die Geschichte eines Armbrustschützen, Namens Toko übernahm, der von seinem König gezwungen wurde seinem eigenen Sohn einen Apfel vom Kopfe zu schießen. So wurde aus Toko der Tell und ein Vornamen war auch schnell gefunden. Der Tschudi hatte einen Lieblingsbäcker gleich ums Eck. Der wurde von allen nur Willi gerufen. Von nun an sollte er Wilhelm lauten. Dieser Tell war es, der die Ereignisse ins Rollen brachte. Genauer an einem Montag im November, im Jahre des Herrn 1307.  

 

So waren die Protagonisten gefunden und die Geschichte nahm ihren Gang. Die kluge Frau des Stouffachers riet ihrem Gemahl sich mit anderen Männern aus Schwytz und Uri zusammenzuschließen und gegen die Unterdrückung durch die Habsburger aufzubegehren.  

 

Laut den Chroniken trafen sich die Urväter der Schweiz auf einem Acker in Uri. Einem Feld voller Mohrrüben. Dieses Rübenfeld erwies sich insoweit als Glücksfall, weil die Habsburger ob des wachsenden Widerstands das Brotgetreide verknappten. So waren die Frauen gezwungen allerlei Gemüse in ihre Brotteige zu mischen, um ihre Männer satt zu bekommen. Da war es trefflich, wenn die Männer von Ihren Zusammenkünften auf besagtem Acker einige Möhren mit nach Hause brachten. Anderntags nahmen die braven Recken dann wieder frisches Brot mit zu ihren Kameraden. Maßgeblich trug eben jenes Brot, mit den roten Sprenkeln zur unerschütterlichen Moral der Aufständischen bei. Gab ihnen Kraft und Zuversicht, auch in den dunklen Stunden, wenn ihre Sache zu scheitern drohte.

 

Dieses Feld war es auch, welches den sagenhaften Schwur der Eidgenossen als erstes vernahm. Jenem Schwur, der in einer brausenden Herbstnacht feierlich gesprochen wurde. Jenen Schwur, der fortan als Gründungsakt der heutigen freien Nation galt. Zu dieser feierlichen Tat rupften die tapferen Mannen ein jeder ein Büschel Rüben aus dem kalten Boden und reckten sie feierlich in den windumtosten Nachthimmel und sprachen feierlich jene Formel, welche sie auf alle Zeit vom Joch der Fremdherrschaft befreien sollte.

 

Der Rüebli-Schwur

 

Aegidius Tschudi legte die Feder beiseite. Inzwischen waren die Bienenwachskerzen zur Hälfte heruntergebrannt. Der Geschichtsschreiber erhob sich erneut, drückte seinen Rücken durch und trat an die schweren Butzenscheiben seines Arbeitszimmers in der Landvogtei. Durch das schummrige Bleiglas sah er den Vollmond groß am Himmel stehen. Tschudi war müde und sein Federbett würde ihn bestimmt mit Freude in Empfang nehmen. Aber die selbstgestellte Aufgabe ließ ihn nicht zu Ruhe kommen. So schickte er erneut nach Niklaus. Er brauchte frischen Wein. Doch diesmal unverdünnt.

 

Nachdem sein treuer Diener ihm das Gewünschte, dazu ein Kanten Brot und etwas Käse, gebracht hatte, nahm Tschudi wieder vor seinen Aufzeichnungen Platz. Aegidius nahm einen ordentlichen Schluck aus seinem Becher.

Hmmm, Niklaus hatte ihm vom Besten eingeschenkt, der Gute. Langsam kehrten seine Lebensgeister wieder zurück. Der Historiker wollte sich eben eine Scheibe Brot abschneiden, um sie mit dem beigelegten Halbhartkäse zu belegen, hielt dann aber inne.

 

Aegidius Tschudi schüttelte seinen feinen Schädel. Ein tiefes Gefühl der Unzufriedenheit hatte sich in ihm ausgebreitet. Nein, so konnte er die Geschichte unmöglich niederschreiben. Die Gründung dieser großartigen freien Nation, verortet auf einem gewöhnlichen Acker. Wo gestandene Männer mit Rüben in der Luft rumfuchtelten, um sich ihres Beistands gegen die Habsburger zu versichern.

Der Obervogt legte Brot und Käse beiseite. Erneut musste er seine freikünstlerische Schaffenskraft bemühen. Es brauchte eine mitreißende Erzählung. Es brauchte mehr Pathos.

 

Kurzerhand nahm er die Karte zur Hand, die er höchstselbst vor einiger Zeit von der Confoederatio Helvetica angefertigt hatte. Angestrengt starrte er auf die Landschaft, die sich in feinen Tintenlinien vor ihm ausbreitete. Tschudi suchte von Westen bis Osten, sowie von Norden nach Süden, aber trotz der unzähligen herausragenden Landmarken, welche die Schweiz zu bieten hatte, konnte er keinen Platz ausmachen, der sich als geeignet für die Gründung der Eidgenossenschaft aufdrängte. Dann plötzlich fiel Tschudis Blick auf eine kleine Wiese oberhalb des Vierwaldstättersees. Ein adäquater Platz inmitten der drei Vogteien.  

Aegidius atmete tief durch und griff erneut zu seiner Feder. Der Fortgang seiner Historia bedurfte eines frischen Ansatzes.

Der Geschichtsschreiber strich den profanen Rübenacker und erhob stattdessen eine gerodete Wiese, das Rütli, zum Schwurort, mithin zum Ausgangspunkt der Schweizer Nation. Die Ähnlichkeit des Namens war einfach zu entzückend. Aus den emporgereckten Mohrrüben wurden feierlich gehobene Hände.

 

Die Sonne überwand eben die Berggipfel im Osten, als der Obervogt die Gänsefeder aus der Hand legte.

 

Es war vollbracht. Die Geschichte dieser großartigen befreiten Nation festgehalten für die Nachwelt. Der Geschichtsschreiber war zufrieden mit seiner Leistung. Ihm, Aegidius Tschudi, war ein Meisterstück gelungen. Er hatte die Bühne bereitet, die Figuren aufgestellt und schließlich das Drama eröffnet.

 

Wenn er doch nur wüsste, wie er den nachfolgenden Generationen das Rüeblibrot erklären konnte …?

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